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Wolfgang Amadeus Mozart
Die Hochzeit des Figaro
Lassen Sie mich die Einführung in Mozarts Oper mit einer etwas seltsamen Gedankenspielerei beginnen. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was aus Romeo
und Julia geworden wäre, wenn nicht beide durch diese unglückliche Verkettung
von tragischen Zuständen ums Leben gekommen wären? Oder was wäre aus Robin
Hood geworden und Lady Marian, wenn sie sich nicht vergiftet hätten, damals im
Sherwood Forest. Oder was aus Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann, alias Rick
und Ilsa in „Casablanca“, wenn Rick sein Transit-Visum selber behalten hätte, um
mit Ilsa nach Amerika auszuwandern? Gedankenspielereien, meine Damen und
Herren, die wir nicht weiter spinnen wollen, wir wollen uns Romeo und Julia nicht
mit einer Kinderschar vorstellen und uns die Ehe-Klischees, die wohl anzuwenden
wären, vom Leibe halten. Diese Fragen sind ungehörig. Wenn der Vorhang fällt,
ist das Schauspiel oder die Oper aus, weiter zu denken ist unstatthaft.
Was hat das nun aber mit Mozarts Oper zu tun? Hier haben sie das ein wenig.
Inhaltlich ist "die Hochzeit des Figaro" eine Fortsetzung des "Barbiers von Sevilla".
Sie erinnern sich vielleicht. In Rossinis Oper geht es um die Intrigen, die letztlich
dazu führen, dass der Graf Almaviva Rosina, das Mündel des Dr. Bartolo, heiraten
kann, mit Hilfe von Figaro.
Und in Mozarts Oper treffen wir die gleichen Figuren wieder an, nur um etliche
Jahre gealtert. Rosina ist jetzt die Gräfin Almaviva, der Graf ist immer noch der
gleiche Lebemann wie damals, die Gräfin ist unglücklich, der Graf stellt weiterhin
den Frauen nach. Auch Figaro ist mit von der Partie, allerdings ist er nicht mehr
der gleich geschickte Intrigant wie damals. Er ist nun Kammerdiener beim Grafen.
Allerdings hat Rossini den Barbier erst dreissig Jahre nach Mozart Figaro komponiert. Mozart hat aber Paisiellos Vertonung des Barbiers gekannt, er ist wohl erst
durch diese Oper auf die Idee gekommen, den Figaro zu vertonen.
Beaumarchais hat drei Stücke geschrieben, den Barbier, den Figaro und ein drittes
Stück "la mère coupable", das aber ohne Erfolg geblieben ist. Barbier wie Figaro
sind eigentlich eminent politische Stücke, beide könnte man ohne weiteres als
"Revolutionsopern" bezeichnen, wie Beethovens "Fidelio", wenn es nicht Komödien
wären. Kaiser Joseph II erkannte diese revolutionäre Tendenz der Stücke von
Beaumarchais und liess das Stück "Die Hochzeit des Figaro oder der tolle Tag", wie
es im Original heisst, in Wien verbieten. Der Textdichter Lorenzo da Ponte konnte
aber, auf Betreiben Mozarts, den Kaiser überzeugen, dass eine Oper etwas anderes
sei als ein Sprechstück. Er musste ihm allerdings versprechen, alle politischen Anspielungen wegzulassen. Was er auch gemacht hat. Mozart allerdings brachte die
Gesellschaftskritik Beaumarchais durchaus wieder zum Tragen, aber davon später.
Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, mit Absicht eine sehr ausführliche
Inhaltsangabe der Handlung geben. Die Handlung ist äusserst komplex. Man kann
aber Mozarts Meisterwerk nur gerecht werden, wenn man seine geniale Musik in
Beziehung setzt zur Handlung der Oper. Erst wenn wir die Handlung überblicken,
können wir ermessen, was Mozart aus diesem Stoff gemacht hat.
Die Oper spielt im Schloss des Grafen Almaviva um 1780. Im Zuge der Aufklärung
hat der Graf das "jus primae noctis" aufgehoben. Sein Kammerdiener Figaro beabsichtigt, Susanna, die Zofe der Gräfin zu heiraten. Der Graf hat aber bereits
selbst ein Auge auf Susanna geworfen, weil er der Liebe zu seiner Gattin überdrüssig ist. Er plant, die Hochzeit der beiden aufzuschieben, um Susanna für sich zu
gewinnen. Er möchte das "Recht der ersten Nacht" wieder einführen. Figaro muss
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
deshalb alles dransetzen, dass die Hochzeit so schnell wie möglich stattfindet, damit der Graf das Nachsehen hat.
Erster Akt
Graf Almaviva begehrt also Susanna, die Braut seines Kammerdieners Figaro. Mit
Geld und schönen Worten will er von Susanna das bekommen, worauf er offiziell
verzichtet hat: das Recht der ersten Nacht, das "jus primae noctis". Um seine Pläne
zu befördern, hat der Graf den beiden, die nächstens heiraten wollen, ein Zimmer
zugewiesen, das er leicht erreichen kann. Figaro merkt von dieser Absicht nichts,
er ist im Gegenteil von der idealen Lage des Raumes begeistert und zu Beginn der
Oper ganz und gar mit der Einrichtung dieses Zimmers beschäftigt. Er vermisst es
und fragt sich, wie das Bett zu stellen sei, dass er und Susanne vom Grafen geschenkt bekommen haben. Susanne klärt ihn aber nun auf über die wahren Absichten des Grafen; Figaro gehen die Augen auf. Aber er fühlt sich der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Grafen gewachsen, er vertraut auf seine List
und die Kunst der Intrige.
Es lauern aber weitere Gefahren, welche die Hochzeit verhindern könnten. Nicht
nur der Graf sucht die Ehe zu verhindern, sondern auch die Haushälterin
Marcellina. Figaro hat ihr offenbar einmal die Ehe versprochen, gleichsam als Pfand
für geliehenes Geld. Sie glaubt nun, sich berechtigte Hoffnungen auf eine Heirat
mit Figaro machen zu können. Der Schuldschein über ein Darlehen, das sie ihm
gegeben hat, verpflichtet Figaro zur Heirat, falls er nicht bezahlen kann. Doktor
Bartolo – das war einmal im "Barbier von Sevilla" der Vormund der Rosina, die
nun Gräfin geworden ist - dieser Doktor Bartolo soll gegebenenfalls die Interessen
von Marcellina vor Gericht vertreten. Das ist aber noch nicht genug Verwirrung. Es
gibt nun noch den Pagen Cherubino, der jedem weiblichen Wesen in pubertärer
Begeisterung zugetan ist. Er ist dem Grafen ins Gehege gekommen, als dieser die
Gärtnerstochter Barbarina verführen wollte. Der Graf hat ihn nach diesem Auftritt
natürlich sofort als Page entlassen. Cherubino hofft nun auf die Fürsprache der
Gräfin, und die Zofe Susanna soll bei ihrer Herrin vermitteln. Nun überstürzen sich
die Dinge: Cherubino fleht Susanna an ihm zu helfen, als überraschend der Graf
auftaucht. Cherubino versteckt sich hinter einem Sessel. Der Graf macht Susanna
unzweideutige Avancen, als zu allem Überfluss auch noch der Musiklehrer Basilio
hinzukommt. Nun muss auch der Graf sich verstecken.
Basilio kennen wir auch schon aus dem „Barbier“. Er hat damals die Calunnia, die
Intrige spinnen wollen, um den Grafen bloss zu stellen. Er hat immer noch nichts
Besseres zu tun als Intrigen zu spinnen, die sich jedoch oft aus einem Funken
Wahrheit entwickeln. Diesmal ist das Ziel seiner Angriffe der arme Cherubino, er
erzählt Susanna, wie dieser in die Gräfin verliebt sei und er malt dessen Gefühle
so plastisch aus, dass der Graf - doppelbödig in seiner Moral - sich in seiner Ehre
gekränkt fühlt und aus dem Versteck hervor tritt, um Basilio des Zimmers zu verweisen. Dem Graf ist, als verfolge Cherubino ihn, und so berichtet er Susanna, wie
er diesen am Vortage auf frischer Tat ertappt hatte, nämlich unter einer Decke in
Barbarinas Zimmer versteckt. Was er im Zimmer gemacht hat, sagt er natürlich
nicht. Und diese Erzählung lebendig untermauernd, greift er wiederum nach der
Decke und findet - abermals Cherubino! Nun gerät auch Susanna in unehrenhaften
Verdacht. Gleichzeitig wird dem Grafen klar, dass Cherubino unerwünschter Zeuge
seiner Liebesbeteuerungen geworden ist.
In diesem Moment taucht auch noch Figaro mit den Bauern und Bäuerinnen auf
und bittet um einen Hochzeitstermin für sich und Susanna. Gleichzeitig rühmen
Figaro und der Chor die Großherzigkeit und Weisheit des Grafen, der auf das Recht
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
der ersten Nacht verzichtet hat. Figaro will den Grafen damit auf einen möglichst
sofortigen Hochzeitstermin festlegen, was diesem aber gar nicht behagt. Zuerst
will er Cherubino so schnell wie möglich loswerden, er ernennt ihn zum Offizier.
Auch Figaro ist froh, wenn der Page nicht mehr am Hofe ist und er widmet ihm
eine höhnische Arie, in der er die Freuden des Soldatenlebens besingt. Der Graf
will aber seine Absichten nicht aufgeben, und er verschafft sich Aufschub durch
das Versprechen eines großen Festes; insgeheim hofft er auf Marcellinas Einspruch.
Zweiter Akt
Die Gräfin trauert der verlorenen Liebe nach; sie ist zu fast allem bereit, um ihren
Gatten für sich zurückzugewinnen. Figaro schlägt ihr nun eine Doppelintrige vor:
Man soll dem Grafen, der sich auf der Jagd befindet, durch Basilio einen anonymen
Brief überbringen, in dem von einer Affäre der Gräfin die Rede ist. Gleichzeitig soll
Susanna dem Drängen des Grafen nachgeben und ihm ein Rendez-vous im Garten
gewähren. Allerdings soll dort nicht Susanna erscheinen, sondern Cherubino in
Frauenkleidern. Dies gäbe der Gräfin die Gelegenheit, ihren Gatten blosszustellen.
Gerade als Cherubino für diese Rolle umgekleidet wird, kehrt der Graf unerwartet
von der Jagd zurück. Sein Misstrauen, angefacht durch den anonymen Brief, findet
sich bestätigt durch die Tatsache, dass die Tür zu den Zimmern der Gräfin verschlossen ist. Cherubino flüchtet sich in höchster Not in das Seitenkabinett. Die
Gräfin lässt nun den Grafen eintreten. Da fällt im Seitenzimmer ein Sessel um,
der Graf findet das Seitenkabinett auch verschlossen, und er ist nun überzeugt,
dass er betrogen wird. Die Gräfin lügt ihm vor, im Kabinett sei Susanna, die ihr
Brautkleid anprobiere. Sie weigert sich, ihm den Schlüssel zu geben. Der Graf will
nun die Türe aufbrechen, muss aber dazu das nötige Werkzeug holen. Zur Sicherheit nimmt er die Gräfin mit und verschliesst den Raum.
Susanna hat sich unbemerkt wieder ins Zimmer geschlichen, und es gelingt ihr bis
zu Cherubino vorzudringen. Diesem bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Fenster zu springen. Das Grafenpaar kehrt zurück. Da die Gräfin ja nicht weiss, dass
sich nun Susanna im Seitenkabinett aufhält und alles in Ordnung wäre, verrät sie
dem Grafen die Intrige mit Susanna und Cherubino. Nun tritt aber, zur Überraschung beider, tatsächlich Susanna aus dem Kabinett. Die Gräfin stellt geistesgegenwärtig diese Überraschung als inszenierte Lektion dar, um den Grafen für seine
Eifersucht zu strafen. Der Graf sieht sich genötigt, seine Gattin um Verzeihung zu
bitten. Da erscheint Figaro, mit einem zweiten Versuch den Grafen zu überrumpeln, indem er ihm ankündigt, dass die Hochzeitsmusikanten bereits eingetroffen
seien. Der Graf treibt ihn jedoch in die Enge, weil er ja von der Intrige weiss. Da
kommt zu allem Überfluss noch der Gärtner Antonio und beklagt sich, dass jemand
aus dem Fenster gesprungen sei und ihm die Blumen zertreten habe. Figaro erklärt
rundheraus, er sei selber hinabgesprungen, da er die Wut des Grafen gefürchtet
habe. Dummerweise hat Cherubino beim Sprung sein Offizierspatent verloren, der
Gärtner bringt es nun und Figaro sieht sich erneut in die Enge getrieben. Da erklärt
er, Cherubino habe ihm das Patent gegeben, weil darauf das Siegel des Grafen
fehle und es deswegen ungültig sei. Der Graf ist für den Moment überwunden. Da
treten Marcellina und Basilio auf und verlangen die gerichtliche Prüfung des Eheversprechens. Die Hochzeit wird erneut verschoben.
Dritter Akt
Weil alle Intrigen Figaros fehlgeschlagen sind, ergreift nun die Gräfin selber die
Initiative. Susanna soll dem Grafen ein Rendez-vous versprechen, aber die Gräfin
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
selbst wird im Garten erscheinen, allerdings in Susannas Hochzeitskleid. Susanna
soll dann in den Kleidern der Gräfin genau im richtigen Moment dazukommen.
Don Curzio, ein ziemlich vertrottelter und bestechlicher Richter erscheint, und erklärt, dass das Gericht entscheiden habe, dass Figaro entweder bezahlen oder
Marcellina heiraten müsse. Nun zeigt sich aber, dass Figaro Marcellina gar nicht
heiraten kann, weil sie seine Mutter ist und Bartolo sein Vater. Es gibt eine grosse
Versöhnung und Figaro ist glücklich, endlich seine Eltern zu kennen. Da kommt
Susannna hinzu; sie hat das nötige Geld beschafft, um Figaro loszukaufen und
findet ihn nun in den Armen der Marcellina. Sie verpasst Figaro die in der opera
buffa obligate Ohrfeige und wird dann aber aufgeklärt. Nun soll es zu einer Doppelhochzeit kommen, Marcellina heiratet Bartolo, Susanna ihren Figaro.
Die Intrige ist aber noch nicht zu Ende. Cherubino ist immer noch im Schloss,
obwohl er längst in Sevilla beim Regiment sein müsste. Barbarina, die Tochter des
Gärtners, hat ihn in Frauenkleider gesteckt, damit er unerkannt im Schlosse bleiben kann. Der Gärtner deckt den Schwindel auf, aber da erinnert Barbarina den
Grafen daran, dass er ihr zum Lohn für zärtliche Stunden, einen Wunsch gewährt
habe. Sie will nun Cherubino zum Manne.
Die Gräfin diktiert Susanna einen Brief an den Grafen, in dem der genaue Ort des
Stelldicheins bezeichnet wird. Bei der Trauungszeremonie steckt Susanna dem
Grafen den Brief zu. Verschlossen ist der Brief mit einer Nadel. Die Nadel muss
Susanna zurückgegeben werden, als Zeichen, dass der Graf den Brief erhalten hat.
Diesmal vertraut der Graf der Verabredung.
Vierter Akt
Figaro trifft auf Barbarina, die als Botin des Grafen die Nadel als Bestätigung an
Susanna zurückbringen soll. Sie hat die Nadel aber verloren und berichtet Figaro
arglos von der bevorstehenden Verabredung zwischen Susanna und dem Grafen.
Da Figaro die Intrige nicht kennt, glaubt er sich betrogen und ausser sich vor Eifersucht, schwört er Rache, mit der er allen betrogenen Ehemännern ein Beispiel
geben will. Deshalb veranlasst er alle Beteiligten, zum Schauplatz des Treffens zu
kommen. Der Kleidertausch funktioniert. Cherubino und Figaro halten die Gräfin
ebenso für Susanna wie der Graf, der ihr glühende Liebeserklärungen macht. Voller
Eifersucht stört der lauschende Figaro die Szene. Diese Gelegenheit benutzt die
als Gräfin verkleidete Susanna, um sich Figaro zu nähern, da erkennt er schlagartig, was gespielt wird, da er seine Susanna trotz ihrer Verkleidung sofort erkennt.
Figaro will aber Susanna die Mummerei heimzahlen und macht ihr eine pathetische
Liebeserklärung, diese richtet er aber nicht an Susanna, sondern an die Gräfin, in
deren Kleidern Susanna ja steckt. Der Graf fällt darauf herein und will strenges
Gericht halten über seine Gattin, die vermeintliche Ehebrecherin. Doch nun gibt
sich die Gräfin im Kleide Susannas zu erkennen. Der Graf muss sich mit Schrecken
eingestehen, dass er seine eigene Frau verführt hat und das vor allen Beteiligten!
Es bleibt ihm nichts anderes mehr übrig, als die völlige Niederlage zu akzeptieren
und seine Gattin um Verzeihung zu bitten. Endlich kann Figaros Hochzeit beginnen.
Meine Damen und Herren! Was sagen Sie zu einer solchen Geschichte! Beethoven
soll ja Mozart vorgeworfen haben, er verschwende sein Genie an unwürdige Stoffe.
In der Tat ist die Handlung des Figaro abstrus, gezeichnet von der Stegreifkomödie, die überall immer wieder durchschimmert, gezeichnet von unwahrscheinlichen
Situationen, von Slapstick-Elementen. Ohrfeigen, anonyme Billetts, Verkleidungen
beherrschen die Szene. Warum hat sich Mozart für ein solches Stück interessiert
und sich dafür eingesetzt, dass sich da Ponte beim Kaiser für eine Bewilligung einer
Aufführung eingesetzt hat?
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
Nun, es handelt sich bei der Handlung des Figaro um einen echten Opera-BuffaStoff. Die opera buffa stammt aus der Commedia dell'arte, aus der Stegreifkomödie mit ihren Charaktertypen und ihren im Grunde fixen Handlungsschemata. Der
Figaro ist ein echter Buffa-Stoff und wir müssen beachten, dass selbst ein Genie
wie Mozart den Bedürfnissen und Moden seiner Zeit unterworfen war. Doch das ist
nur ein Grund.
Werfen wir einen vergleichenden Blick auf die ebenso erfolgreiche Opera-buffa
Rossinis, den Barbier von Sevilla. Eine unmögliche Komödie der Verwicklungen und
Verwirrungen auch sie. Rossinis Oper ist die beste von allen zahlreichen Vertonungen, keine Frage! Sie ist die beste, weil Rossini diese ganze wirre Handlung mit
einer geradezu göttlichen Ironie überstrahlt. Man könnte diese Komödie vertonen
und den Don Bartolo als Trottel, Don Basilio als Lüstling, den Figaro als aufgeblasenen Kerl und Rosina als raffinierte Zicke darstellen. Das macht Rossini nicht. Die
Musik ist voller Liebe zu all den Figuren. Die Trottelhaftigkeit Don Bartolos ist bei
Rossini menschlich und liebenswert. Rossini schafft es in seiner Musik, durch Ironie
diese Figuren liebenswert zu machen. Echte Ironie ist immer von Liebe getragen.
Er schafft es, durch seine Musik, sich gleichsam mit uns Zuhörern über die menschlichen Schwächen dieser Figuren zu verständigen. Und wir lächeln mit Rossini zusammen über menschliche Unzulänglichkeit und werden gewahr, dass eigentlich
wir gemeint sind, dass wir über uns selber lächeln – und noch wichtiger: dass uns
ein Mensch, der die Menschen liebt, einen Spiegel vorhält. So etwas schaffen nur
Rossini und eben Mozart. Nur dieser mit anderen Mitteln. Rossini zeichnet seine
Figuren mit liebender Ironie, er hält uns in ihnen einen Spiegel vor, aber er verändert nicht die Typenhaftigkeit ihrer Charaktere! Sie bleiben Typen und bleiben damit der opera buffa und der Stegreifkomödie verbunden. Rossini ist der Meister
und der Höhepunkt schlechthin dieser Art der opera buffa. Nach dem Barbier stirbt
die Gattung aus.
Mozart nun macht die Figuren zu Menschen, zu Individuen! Auch wenn sie anfänglich eben Typen sind der Stegreifkomödie, im Laufe der Oper werden sie zu Menschen. Die Verwicklungen und Zufälle sind nicht mehr da zur Belustigung, sondern
sie werden auf eine höhere Ebene gehoben, aufgehoben gleichsam. Intrigen und
Verkleidungen geschehen nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern sie sind Ausdruck der menschlichen Triebe, Wünsche und Hoffnungen. Es ist nicht mehr ihre
Aufgabe, uns zum Lachen zu bringen, sondern wir werden in ihnen gewahr, wie es
Menschen ergeht, wenn sie ihre Triebe, Wünsche und Hoffnungen verwirklichen
wollen.
Ich will versuchen, Ihnen zu zeigen, mit welchen musikalischen Mitteln Mozart dies
erreicht. Sie kennen bestimmt die kleine Ariette des Cherubino aus dem zweiten
Akt. "Voi che sapete, che cosa è amor" Es ist eigentlich ein einfaches Liedchen,
das Cherubino der Gräfin vorsingt, ein Strophenlied. Als solches ist es auch ganz
in die Handlung eingebettet. Aber im Gang durch die Tonarten B-dur, F, dur, Adur, dann As-Dur, eine kleine Septime von der Grundtonart entfernt, zurück zu Bdur entfaltet sich ein Minidrama eines jungen Menschen, der mit seiner Erotik nicht
zu Rande kommt, Lust und Leid durchmacht und am Ende des Liedes ein anderer
Mensch ist als zu Beginn. Das tönt jetzt sehr theoretisch, aber Sie werden diesen
Wandel im "voi che sapete" ohne weiteres hören, wenn Sie darauf achten.
Mozart gelingt es immer wieder, die Handlung direkt in Musik umzusetzen. Er „musikalisiert“ die Handlung gleichsam. Gleich zu Beginn können Sie das ganz klar
erkennen. Nach der Ouvertüre treten Figaro und Susanna auf. Figaro vermisst
eben das Zimmer. Seine Messresultate – cinque, dieci – gehen direkt in den musikalischen Satz über. Ebenso im darauf folgenden Duett mit seiner Susanna geht
die Glocke, die Susanna oder Figaro rufen soll, direkt über in die Melodie und in
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
den Orchestersatz. Das ist einzigartig und neu. Vereinfacht gesagt, vor Mozart war
Oper Gesang mit Begleitung, bei Mozart ist Oper musikalische Handlung. Diese
Musikalisierung der Handlung macht die Figuren der Oper zu Individuen. Figaro
und Susanna treten als Individuen auf, nicht mehr als Typen. Sie sind nicht mehr
austauschbar.
Wie erreicht Mozart dieses Besondere? Mozart ist ein Klassiker, man zählt ihn zu
der Wiener Klassik, zusammen mit Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven. Die
musikalische Form der Wiener Klassik ist die Sonate. Man kann sagen, dass alle
Musik der Klassik Sonaten sind. Die Klaviersonaten natürlich ohnehin, aber alle
Instrumentalkonzerte, alle Sinfonien, alle Quartette und Trios stehen im Sonatensatz. Was ist das Wesen der Sonate? Auf einen einfachen Nenner gebracht: Die
Sonate ist die Form der musikalischen Entwicklung. Ein Thema wird einem zweiten,
dem sogenannten Seitenthema, gegenübergestellt, daraus entwickelt der Komponist in thematischer Arbeit die Fortsetzung des Satzes, die sogenannte Durchführung. Im Wesentlichen entsteht der Sonatensatz aus dem Material der beiden Themen. In der Reprise am Schluss des Satzes werden Haupt- und Seitthema wieder
aufgegriffen. Sonatenform ist Entwicklung, Sonaten sind eine entwickelnde Musik.
Überträgt man nun diesen Entwicklungsgedanken auf die Oper, auf die Arie oder
auf das Ensemble, auf Gesangsmusik also, so bleiben die singenden Figuren der
Oper eben nicht mehr statisch, sondern sie entwickeln sich gleichsam mit. Aus den
Typen werden Individuen. Die Entwicklung der Gesangsmelodie aus einem Thema
wird zur Analogie des sich entwickelnden Menschen. Natürlich ist die Sonatenform
eine Instrumentalform und keine Gesangsform. Aber im Figaro gibt es Arien und
Ensembles, die sich der Sonatenform annähern und es sind genau jene Arien, in
denen die Figuren ihre menschliche Seite zeigen, ihre Trauer, ihre Wut und Verzweiflung.
Ein sehr schönes Beispiel ist im ersten Akt die Kavatine des Figaro, als er sich
bewusst wird, was der Graf mit seiner Susanne für Absichten hegt. Die Kavatine
hebt an mit einer einfachen Melodie an "Se vuol ballare Signor Contino", Thema
und Seitenthema, Fortsetzung auf der Dominante, dann Durchführung und Reprise
als Presto. Die Kavatine oder Arie zeigt aber einen Figaro, der sich, während er
singt, entwickelt. Zuerst ist er wütend, will dem Grafen den Marsch blasen und
Musik machen zu seinen Tänzen, dann besinnt er sich – in der Durchführung – und
zwingt sich zur Bedachtsamkeit, zur Strategie und Intrige, am Schluss in schnellem
Tempo ist er der Entschlossene, der mit allen Mitteln die Pläne des Grafen zu
durchkreuzen willens ist.
Ebenso im vierten Akt, in der sogenannten Garten- oder Rosenarie der Susanne,
in welcher sie sich jenseits aller Verkleidungen und Intrigen eingesteht, dass sie
Figaro liebt und möchte, dass der elende Mummenschanz endlich ein Ende habe.
Hier wird Susanna ganz Mensch, ganz Individuum. Auch diese Arie steht in einer
Art Sonatenform.
Rossini wird später den Barbier nicht so komponieren, seine Figuren bleiben Typen.
Nur einmal setzt er im Barbier die Sonatenform ein, in der Arie des Don Bartolo,
der im Figaro ja auch wieder vorkommt. Er deutet bei jener Figur, die sich nun
überhaupt nicht entwickelt und ein Trottel bleibt, Entwicklung in der Musik an. Das
ist Rossinis Ironie. Und es zeigt auch, dass man hier nicht werten darf. Mozart ist
in dieser Frage nicht besser als Rossini, er ist anders, eben der Klassiker Mozart.
Dazu kommt, dass Mozart im Figaro die Zahl der Arien stark zurücknimmt und den
Ensembles, also den Duetten, Terzetten, bis hin zum Sextett, einen weit grösseren
Platz einräumt. Auch das Ensemble, der musikalische Dialog ist ein wesentliches
Moment der Vermenschlichung der Figuren. Sie sind im Dialog, in der Kommunikation miteinander. Und Dialog und Kommunikation ist auch immer Entwicklung.
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
Ein Wort noch zum Finale des zweiten Akts. In der opera buffa ist das Finale des
zweiten Aktes wichtig, weil Ende des zweiten Aktes der Höhepunkt der Handlung
erreicht ist. Dies ist auch im Figaro so, die Verwicklungen und Verkleidungen, die
Missverständnisse und Verletzungen sind am weitesten entfernt von einer Lösung.
Das grosse Finale des 2. Akts besteht aus acht Teilen und ist eine Art Komödie in
der Komödie. Jeder dieser acht Teile zeigt eine abgeschlossene Situation, mit ihren
besonderen Verwicklungen und Figurengruppierungen. Jede der folgenden Szenen
bringt einerseits eine Vermehrung des intrigierenden Personals, aber damit auch
eine Erhöhung der Spannung durch den Einbau noch wirksameren Kabale. Die
Steigerung gegen Schluss ist derart, dass nur noch der fallende Vorhang dem Tumult ein Ende machen kann, genau in jenem Moment, in dem es wirkliche keine
Lösung mehr gibt.
Zuerst streiten sich Graf und Gräfin um den Schlüssel des Kabinetts, dann tritt
unerwarteter Weise Susanna aus dem Nebenzimmer, der Graf muss seine Gattin
um Verzeihung bitten, dann tritt Figaro hinzu, er will dem Grafen Druck machen,
die Hochzeit sogleich zu gestatten, der Graf hält ihm aber den Schuldschein unter
die Nase, der ihn zur Ehe mit Marcelline verpflichtet. Jetzt tritt der Gärtner Antonio
hinzu und beklagt sich über die zertrampelten Blumen, dann händigt er dem Grafen das Offizierspatent Cherubinos aus und zum Schluss treten Marcellina, Bartolo
und Basilio auf, die Hochzeit von Figaro und Marcellina verlangend. Alles endet in
einem allgemeinen Tumult. Auch dieses Finale des zweiten Akts zeigt eine deutliche Anlehnung an die Sonatentechnik. Deshalb gelingt es Mozart auch, jede Szene
aus der vorigen zu entwickeln und die Szene ins Tumultuöse auf der Bühne und
im Orchester zu steigern.
Vielleicht aber die menschlichste Arie ist die Arie der Gräfin zu Beginn des zweiten
Aktes. "Porgi amor". Sie zeigt die Gräfin ganz als die verletzte Frau, die sich von
ihrem Gatten verlassen fühlt und sich den Tod wünscht. So ist der zweite Akt eine
wunderbare Entfaltung vom tief Menschlichen zur Komödie.
Vielleicht zum Schluss noch ein Wort zur politischen oder gesellschaftskritischen
Seite von Mozarts Oper. Immerhin hatte der Kaiser das Stück im Sprechtheater
verboten und es ist nur dem Umstand zu verdanken, dass der Librettist Da Ponte
dem Hofe nahe stand, dass der Kaiser dann die Oper bewilligte. Es ist tatsächlich
ein eminent politisches Stück. Wir befinden uns drei Jahre vor dem Sturm auf die
Bastille, dem Ausbruch der Französischen Revolution. Gewiss Da Ponte hat die
gefährlichen Stellen bei Beaumarchais geglättet. Mozart hat aber in seiner Musik
vieles wieder eingefügt. Es muss ein besonderes Risiko gewesen sein, eine Oper
mit einem singenden Diener zu beginnen, der ein Zimmer ausmisst. Und die Arie
des Figaro, in der er dem Grafen den Marsch blasen will, ist letztlich unverhüllte
Sozialkritik am Adel und seiner Libertinage. Ein minderer Komponist als Mozart es
war, hätte mit unfehlbarer Sicherheit den Zorn des Kaisers herausgefordert. Doch
Mozart gelingt es, auch die Sozialkritik menschlich zu machen, sie wird bei ihm zu
einer Kritik von Menschen an Menschen, nie zu einer Ideologie.
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Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
22. November 2013
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