Inhaltsverzeichnis/Sommaire AJP/PJA 12/2014 Aufsätze / Articles Der Verfasser, Richter am Bundesstrafgericht Bellinzona, weist auf die hohe Verantwortung der Strafverfolger und der erstinstanzlichen Gerichte für einen gesetzeskonformen Umgang mit dem abgekürzten Verfahren nach Art. 358 ff. der Strafprozessordnung hin. Dieses dient ausschliesslich der Abkürzung des Vorverfahrens in komplexen und nicht liquiden Fällen. ■ Walter Wüthrich Freier Markt beim Strafen? 1585 Eine fundierte Antwort aus berufenem Mund auf die im letzten Halbjahr laut gewordene Kritik an den Kindesund Erwachsenenschutzbehörden (KESB), mit einem Zwischenfazit und Ausblick in Bezug auf sieben Erfolgsund Risikofaktoren. Diese hängen weitgehend vom guten Zusammenarbeiten zwischen KESB, Mandatsträgern und Gemeinden, aber auch den personellen Ressourcen sowie der ausreichenden Ausstattung der den KESB vorgelagerten anderen Diensten ab. ■ Christoph Häfeli Zwei Jahre Kindes- und Erwachsenenschutzrecht – Erfolgs- und 1592 Nach einem Überblick über das «Joint Statement» vom 29. August 2013 geht die Verfasserin insbesondere auf die Frage ein, ob Schweizer Banken, die aufgrund des «Program for Non-Prosecution Agreements or Non-Target Letters for Swiss Banks» Zahlungen leisten, auf ihre Bankkunden Rückgriff nehmen können bzw. sich diesen gegenüber auf Verrechnung berufen können. ■ Sabine Burkhalter Das US-Programm und die Bussenzahlungen – besteht ein 1601 Der Verfasser untersucht Grundlagen und Ausgestaltungen des Crowdfunding und insbesondere des Crowdlending im schweizerischen Recht und fragt nach möglichen Einschränkungen, die sich aus einer eventuellen Anwendung bestimmter Normen des Konsumkreditgesetzes oder des Finanzmarktrechts ergeben könnten. Schliesslich nimmt er zur Frage Stellung, ob sich eine gesetzliche Regelung rechtfertige bzw. als notwendig erweise. ■ Andreas Schneuwly Crowdfunding aus rechtlicher Sicht 1610 Der Verfasser untersucht Grundlagen und System der Dienstleistungsverträge, ausgehend insbesondere von Art. 394 Abs. 2 OR, und hinsichtlich der Frage, ob die Art. 394 ff. auf Innominatverträge mit Dienstleistungscharakter als dispositives Recht unmittelbar oder nur entsprechend bzw. nach den Regeln der Analogie Anwendung finden. ■ Alfred Koller Dienstleistungsverträge – Begriff, Arten, rechtliche Grundlagen 1627 Der Verfasser nimmt kritisch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Haaranalyse auf Ethylglucuronid (EtG) Stellung. Einerseits stellt er die Eignung der vom Bundesgericht aufgestellten Leitlinien zur Interpretation der Haaranalysen für den Abstinenznachweis nach einem Sicherungsentzug in Frage, andererseits aber auch die Verhältnismässigkeit der Auflage einer Totalabstinenz. ■ Daniel M. Häusermann Alkoholiker am Steuer 1636 Im Zusammenhang mit dem am 2. Juni 2014 in Kraft gesetzten FATCA-Abkommen wurde das Musterformular R, das aus der Sorgfaltspflichtvereinbarung der Banken hervorgegangen war, angepasst. Für Anwälte hat dies insofern Auswirkungen, als z.B. Geldtransaktionen im Zusammenhang mit Erbteilungen, familienrechtlichen Angelegenheiten, Gesellschaftsgründungen nicht mehr vom Anwendungsbereich des Formulars R gedeckt sind. ■ Matthias Portmann Der neue Anwendungsbereich des Formulars R unter FATCA – 1646 Die Verfasserin nimmt den zur Publikation in der Amtlichen Sammlung bestimmten Entscheid BGer 9C_810/2013 vom 15. September 2014 zum Anlass, die Gewährung des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs und die Erwerbsersatzleistungen für berufstätige Mütter unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten – im Verhältnis ■ Stéphanie 1652 AJP 12_2014.indb 1583 Risikofaktoren bei der Umsetzung Regressrecht der Banken? hat das Formular R noch eine Zukunft? Perrenoud Le congé de maternité: une discrimination à l’égard des pères? 12.12.14 13:31 Inhaltsverzeichnis/Sommaire AJP/PJA 12/2014 zu nichterwerbstätigen Müttern und zu Männern bzw. Vätern (Gewährung eines Elternurlaubs oder in zeitlich beschränktem Umfang) – zu analysieren. Umfassender und detaillierter Überblick über die Grundlagen des Rechts auf Einsicht in das Personal dossier und Auseinandersetzung mit Sonderfragen, wie z.B. Auskunftsrechte hinsichtlich interner Berichte und Korrespondenzen, weiterer Korrespondenzen und von Arbeitszeitunterlagen. ■ Roger Auswertung einer Umfrage im Zusammenhang mit dem viel gehörten Vorwurf, interkantonale Konkordate brächten ein Demokratiedefizit mit sich, verbunden mit interessanten Anregungen für Problemlösungen. ■ Ralph Rudolph 1672 Das Recht des Arbeitnehmers auf Einsicht in sein Personaldossier Bomatter Herausforderung Konkordate: Inventar der von den 1684 Kantonsparlamenten eingesetzten Institutionen und Verfahren Chronik der Rechtsetzung / Législation ■ Luca Oberholzer 1692 Rechtsprechungsübersicht / Aperçu de la jurisprudence ■ Jens Lehmann / Marisa Pacciarelli 1700 Besprechung neuerer Entscheidungen auf dem Gebiet des Eherechts Ein konziser Überblick über rund dreissig eherechtliche Entscheidungen des Bundesgerichts aus den Jahren 2013 und 2014, mit Hinweisen auf die Einordnung der einzelnen Entscheide in die Entwicklungslinien der langjährigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung. ■ Thomas Geiser 1706 Entscheidungsbesprechungen / Discussions d’arrêts actuels Mit Urteil 2C_421/2013 vom 21. März 2014 («Zofingia»- ■ Denise Buser Urteil) hat das Bundesgericht den Entscheid des Ver (1) Universitäre Anerkennung einer Studentenverbindung, waltungsgerichts des Kantons Waadt geschützt, mit die nur Männer aufnimmt. Reflexionen zum Zofingia-Urteil welchem die Universität Lausanne verpflichtet wurde, des Bundesgerichts eine Studentenverbindung, die nur Männer aufnimmt, als universitären Verein zu anerkennen. Die Besprechung zeigt methodische und grundrechtsdogmatische Mängel des Entscheids auf. 1715 Der hier besprochene Entscheid SB.2013.00037 vom ■ Oliver Arter 2. April 2014 des Zürcher Verwaltungsgerichts ist instruktiv (2) Steuerhoheit – Ort der tatsächlichen Verwaltung – für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Offshore-Gesellschaften Gesellschaft mit Sitz in Jersey, für welche Verwaltungshandlungen in der Schweiz vorgenommen werden, in der Schweiz steuerpflichtig ist. 1722 Literaturübersicht / Bibliographie ■ Anne-Laure Bossel / Luca Oberholzer 1728 Zu guter Letzt Gerade auch nicht unbedachte Äusserungen in einem TVInterview können Schadenersatzforderungen begründen. ■ Arnold F. Rusch Das wahrscheinlich teuerste Interview der Welt 1734 Mitteilungen / Communications AJP 12_2014.indb 1584 Impressum 1737 Autorenverzeichnis / Adresses des auteurs 1738 12.12.14 13:31 Freier Markt beim Strafen? AJP/PJA 12/2014 Freier Markt beim Strafen? Gedanken zum abgekürzten Verfahren 1585 Walter Wüthrich Das abgekürzte Verfahren nach Art. 358 ff. StPO dient aufgrund seiner gesetzlichen Ausgestaltung in der Regel nur der Abkürzung des Vorverfahrens in komplexen und nicht liquiden Fällen. Das Gesetz bringt diesen gesetzgeberischen Willen ungenügend zum Ausdruck. Strafverfolger und erstinstanzliche Gerichte tragen eine hohe Verantwortung dafür, dass das abgekürzte Verfahren im Rahmen klarer Konturen zur Anwendung kommt und das Bedürfnis nach Effizienz nicht rechtsstaatliche Prinzipien unterläuft oder anderen Zwecken dient. Indem das erstinstanzliche Gericht zu prüfen hat, ob das abgekürzte Verfahren in concreto angebracht sei, obliegt ihm die Pflicht, das staatsanwaltschaftliche Handeln bezüglich Ermessensmissbrauch und Ermessensüberschreitung zu prüfen. Kann ein Verfahren auch effi zienter geführt werden, indem Teile in Anwendung von Art. 8 Abs. 1 lit a StPO bereits in frühem Vorverfahrensstadium erledigt werden, so verdient ein entsprechendes Vorgehen den Vorzug. La procédure simplifiée prévue aux art. 358 ss CPP est avant tout conçue pour permettre de raccourcir la procédure dans des cas complexes et non clairs. La loi n’exprime pas suffisamment cette volonté du législateur. Les autorités de poursuite pénale et les tribunaux de première instance portent la lourde responsabilité de veiller à ce que la procédure sommaire ne s’applique qu’en présence de contours clairs, à ce que l’efficacité recherchée n’éclipse pas les principes de l’État de droit et à ce que cette procédure ne serve pas à d’autres fins. Le juge de première instance ayant l’obligation d’examiner si la procédure sommaire est appropriée dans le cas concret, il lui incombe de contrôler que le ministère public n’a commis aucun abus ni excès de son pouvoir d’appréciation. Lorsque l’application de l’art. 8 al. 1 let. a CPP dès les premières étapes de la procédure préliminaire permettrait, elle aussi, d’accroître l’efficacité de la procédure, il convient d’opter de préférence pour une telle solution. 1. Mit der Vereinheitlichung des Strafverfahrens wurde im Jahr 2011 in der ganzen Schweiz die Möglichkeit des abgekürzten Strafverfahrens eingeführt1. Die Regelung erlaubt es einer beschuldigten Person, beim Staatsanwalt bis zur Anklageerhebung diese Verfahrensart zu beantragen, wenn sie den für die rechtliche Würdigung wesentlichen Sachverhalt eingesteht und die Zivilansprüche der Geschädigten mindestens grundsätzlich anerkennt. Die Staatsanwaltschaft entscheidet über die Durchführung des abgekürzten Verfahrens endgültig, d.h. ohne Möglichkeit des Weiterzugs und ohne Begründung2. Gemäss Gesetz und herrschender Lehre stehen zwei zwingende Hindernisse der Bewilligung dieses Verfahrens entgegen, nämlich erstens, wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren beantragt und zweitens, wenn sie eine solche unter sechs Monaten oder eine gleichwertige Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit als angemessen ansieht (im letzteren Fall wäre das Strafbefehlsverfahren anzuwenden3,4). Liegt sie dazwischen, so hat ihr Ermessen, das abgekürzte Verfahren zu bewilligen, keine weiteren im Gesetz präzis umschriebenen Schranken. Die Limitierung des entsprechenden Ermessens erfolgt erst indirekt im Zuge der richterlichen Genehmigung der Anklageschrift im abgekürzten Verfahren, welche insoweit eine Art Kontrolle über das staatsanwaltschaftliche Handeln in Bezug auf die Aspekte «Ermessensmissbrauch» und «Ermessensüberschreitung» darstellt5,6. 1 2 3 4 Walter Wüthrich, Bundesstrafrichter, Bellinzona. Art. 358 ff. StPO. Art. 359 Abs. 1 StPO. Art. 352 Abs. 1 StPO: «... so erlässt die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl.» A.M. Marc Thommen, Kurzer Prozess – fairer Prozess? Bern 2013, 174. Der Autor vertritt die Auffassung, dass auch unter sechs Monaten Freiheitsstrafe Anklage erhoben werden kann, wenn nach der Untersuchung noch tatsächliche Zweifel verbleiben, weist aber AJP 12_2014.indb 1585 2. Hat die Staatsanwaltschaft das abgekürzte Verfahren bewilligt, so unterbreitet sie den Parteien ihre Anklageschrift zur Zustimmung oder Ablehnung. Was zwischen ihrem Vorschlag und der Zustimmung der Parteien vonstatten 5 6 gleichzeitig darauf hin, dass hier das abgekürzte Verfahren als Alternative zum ordentlichen Verfahren ausscheidet, weil in der Regel nur beim ungeständigen Beschuldigten an der Täterschaft Zweifel bestehen. Siehe hinten Ziff. 6. Es kann für das abgekürzte Verfahren gemäss Schweizerischer StPO das Analoge zu dem gesagt werden, was das deutsche Bundesverfassungsgericht im Urteil BVerfG 2 BvR 2628/10 vom 19. März 2013 im Leitsatz 6a bei der verfassungrechtlichen Prüfung des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2353) (Verständigungsgesetz) festhält: «Das Verständigungsgesetz statuiert kein neues, konsensuales Modell des Strafverfahrens, sondern integriert Absprachen – die das Grundgesetz nicht schlechthin ausschliesst – in den von Verfassungs wegen der bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit und der Findung einer tat- und schuldangemessenen Strafe verpflichteten Strafprozess.» 12.12.14 13:31 Christoph Häfeli AJP/PJA 12/2014 Zwei Jahre Kindes- und Erwachsenenschutzrecht – Erfolgs- und Risikofaktoren bei der Umsetzung 1592 Christoph Häfeli Knapp zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts stehen das total revidierte Vormundschaftsrecht sowie namentlich die professionellen Behörden in der Kritik von Gemeinden, Politik, Fachleuten, Betroffenen und Medien. Der vorliegende Beitrag ruft die zentralen Anliegen des neuen Rechts in Erinnerung, benennt die Hauptakteure und setzt sich mit der Kritik anhand von sieben Erfolgs- und Risikofaktoren auseinander. Die Ausführungen basieren auf zahlreichen Beratungen des Autors von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden und Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern in mehreren Kantonen der Deutschschweiz sowie auf seiner Mitwirkung an der Revision. Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zentrale Anliegen des KESR 1. Vom Paternalismus zur Selbstbestimmung 2. Subsidiarität behördlicher Massnahmen 3. Verhältnismässigkeit behördlicher Interventionen 4. Professionalisierung der KESB 5. Rechtsstaatliches Verfahren III.Hauptakteure des KESR und Aufgabenteilung 1. Hauptakteure i.e.S. 2. Akteure im w.S. IV.Erfolgs- und Risikofaktoren bei der Umsetzung des KESR – Stolpersteine und Lichtblicke 1. Mehr Selbstbestimmung als Prüfstein a. Gesetzliche Grundlagen und Spannungsfelder b. Indikatoren für Defizite bei der Umsetzung 2. Subsidiarität und Verhältnismässigkeit a. Bundesgerichtliche Rechtsprechung b. Die «Pervertierung» des Subsidiaritätsprinzips in der Praxis 3. Professionalisierung durch Interdisziplinarität? 4. Aufgabenteilung und Zusammenarbeit zwischen KESB und Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern 5. Verhältnis zwischen KESB und Gemeinden 6. Personelle Ressourcen der KESB und der Mandatsführungsdienste 7. Verfahrens- und Mandatsführungskosten V. Fazit und Ausblick in Bezug auf die sieben Erfolgs- und Risikofaktoren 1.Selbstbestimmung 2.Subsidiarität 3. Professionalität durch Interdisziplinarität 4. Aufgabenteilung und Zusammenarbeit zwischen KESB und MT 5. Verhältnis zwischen KESB und Gemeinden 6. Personelle Ressourcen von KESB und MT 7. Verfahrens- und Mandatsführungskosten AJP 12_2014.indb 1592 Deux ans à peine après l’entrée en vigueur du nouveau droit de la protection de l’enfant et de l’adulte, le droit de la tutelle, entièrement révisé, ainsi que les autorités professionnelles sont critiqués par les communes, les milieux politiques, les professionnels, les personnes concernées et les médias. Le présent article rappelle les enjeux essentiels du nouveau droit, cite les acteurs principaux et analyse les critiques au moyen de sept facteurs de succès et de risque. Les explications se basent sur les nombreuses consultations données par l’auteur aux autorités de protection de l’enfant et de l’adulte et aux mandataires dans plusieurs cantons de Suisse allemande ainsi que sur sa participation à la révision. I.Einleitung Nach knapp zwei Jahren steht das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) in der Deutschschweiz in massiver Kritik von allen Seiten. Das Gesetz gilt als perfektionistisch, bürokratisch und kostenintensiv. Die neuen professionellen Behörden werden als realitätsfremd, bürgerfern, verfahrensfixiert und wegen viel zu langer Verfahren kritisiert. Besonders heftig ist die Kritik von Seiten der Gemeinden, die sich beklagen, nur noch «Zahlstellen» der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) zu sein, ohne in die Verfahren einbezogen zu werden. Sie werfen den KESB vor, zu viele Massnahmen ohne Berücksichtigung der Folgekosten anzuordnen. Auch die Mandatsträger (MT) – Beiständinnen und Beistände – beklagen sich über ihren mangelnden Einbezug im Verfahren, über zu komplizierte Verfahren und die lange Verfahrensdauer sowie den «Befehlston» mancher KESB. Betroffene, die sich selber an die KESB wenden oder aufgrund von Gefährdungsmeldungen von der KESB kontaktiert werden, kritisieren den Umgangston und namentlich auch die Verfahrenskosten, die ihnen auferlegt werden. Christoph Häfeli, Niederrohrdorf, Prof. em. FH, Jurist und Sozi- alarbeiter, Kindes- und Erwachsenenschutzexperte. Der Verfasser war Mitglied der Expertengruppe Schnyder/Stettler/ Häfeli (1993–1998) und der Expertenkommission (1998–2002). Erweiterte und aktualisierte Fassung eines Referats, gehalten an der Tagung des Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Universität St. Gallen zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht vom 19. September 2014 in Zürich. 12.12.14 13:31 Das US-Programm und die Bussenzahlungen – besteht ein Regressrecht der Banken? AJP/PJA 12/2014 Das US-Programm und die Bussen zahlungen – besteht ein Regressrecht der Banken? 1601 Sabine Burkhalter Ob die Voraussetzungen einer Haftung des Bankkunden für Zahlungen der Bank aus dem US-Programm gegeben sind, wird im Einzelfall eingehend geprüft werden müssen. Vor dem Hintergrund, dass die USBusse zumindest nicht eindeutig als Busse mit strafrechtlichem Charakter qualifiziert werden kann und aufgrund des enormen Drucks auf die Banken, am US-Programm teilzunehmen, kann die Bezahlung der Busse im Einzelfall wohl als eine unfreiwillige Vermögensverminderung qualifiziert werden. Als Anspruchsgrundlage für ein mögliches Regressrecht der Bank aus Bussenzahlungen an die USA sind grundsätzlich sowohl vertragliche als auch ausservertragliche Ansprüche gegenüber den entsprechenden Bankkunden denkbar. Kann man einem Bankkunden vorwerfen, dass er durch sein Verhalten eine vertragliche Pflicht verletzt und eine unerlaubte Handlung begangen hat, so kann sich die Bank auf beide Haftungsgründe berufen. Die Verrechnungsmöglichkeit ist im Einzelfall zu prüfen, jedoch grundsätzlich nicht ausgeschlossen, wenn die Schadenersatzforderung gegenüber dem Bankkunden tatsächlich besteht und auch fällig ist. Inhaltsübersicht 1.Einleitung 2. Überblick über das US-Programm 2.1.Grundlagen 2.2.Bankenkategorien 2.3.Bussensystem 3. Rechtliche Qualifikation der US-Busse 4. Regressmöglichkeiten der Banken 4.1. Mögliche Anspruchsgrundlagen 4.2. Vertragliche Ansprüche 4.2.1 Qualifikation des Vertrags 4.2.2 Schaden 4.2.3Vertragsverletzung 4.2.4 Kausalität 4.2.5Verschulden 4.2.6Fazit 4.3. Ausservertragliche Ansprüche gemäss OR 41 4.3.1 Schaden und Kausalität 4.3.2Widerrechtlichkeit 4.3.3Verschulden 4.3.4 Fazit 5. Verrechnungsmöglichkeit der Regressforderung 5.1. Allgemeine Voraussetzungen 5.2. Verrechungserklärung und fehlender Verrechnungsausschluss 6.Fazit 1.Einleitung Zur Beilegung des seit Jahren andauernden Steuerstreits zwischen den USA und den Schweizer Banken haben das Sabine Burkhalter, Dr. iur., Rechtsanwältin, Partner GHR Rechtsanwälte AG, Bern/Muri. AJP 12_2014.indb 1601 La réalisation des conditions d’une responsabilité du client d’une banque pour les paiements que cette dernière a effectués sur la base du programme américain nécessite un examen approfondi au cas par cas. Compte tenu du fait que l’amende américaine ne peut pas être clairement définie comme une amende à caractère pénal et de l’énorme pression à laquelle sont soumises les banques pour participer au programme américain, le paiement de l’amende peut, selon les cas, être considéré comme une diminution involontaire du patrimoine. La banque pourrait fonder un éventuel droit de recours du fait des amendes qu’elle a versées aux Etats-Unis sur des prétentions aussi bien contractuelles qu’extracontractuelles à l’encontre des clients impliqués. Si l’on peut reprocher à un client bancaire d’avoir, par son comportement, enfreint une obligation contractuelle et commis un acte illicite, la banque peut invoquer ces deux chefs de responsabilité. La compensation doit être examinée au cas par cas, mais elle n’est en principe pas exclue si la créance en réparation du dommage à l’encontre du client de la banque existe effectivement et est aussi exigible. US Justizdepartement (Department of Justice; nachfolgend «DoJ») und das Eidgenössische Finanzdepartement (nachfolgend «EFD») Verhandlungen aufgenommen und ein Programm zur Lösung der Problematik ausgearbeitet: Das «Joint Statement» wurde am 29. August 2013 unterzeichnet. Es nimmt Bezug auf das gleichentags bekanntgegebene «Program for Non-Prosecution Agreements or Non-Target Letters for Swiss Banks» (nachfolgend «USProgramm»). Der vorliegende Beitrag umreisst in einem ersten Schritt das vorgenannte US-Programm (2.) und geht anschliessend auf die Thematik der im Programm enthaltenen US-Bussenregelung ein (3.). Anschliessend wird sowohl die Regressmöglichkeit der Banken gegenüber den entsprechenden US Bankkunden (4.), wie auch eine potentielle Verrechnung allfällig zu bejahender Regressforderungen (5.) andiskutiert. Der vorliegende Aufsatz erhebt nicht den Anspruch, die sich stellenden Fragen abschliessend zu beantworten. 2. Überblick über das US-Programm 2.1.Grundlagen Das US-Programm wurde einseitig vom DoJ eingeführt und stellt somit trotz dem Verweis im Joint Statement 12.12.14 13:31 Andreas Schneuwly AJP/PJA 12/2014 Crowdfunding aus rechtlicher Sicht 1610 Andreas Schneuwly Die Bedeutung von Crowdfunding hat in letzter Zeit stark zugenommen. Im Internet werden stetig neue Crowdfunding-Plattformen gegründet, womit sich auch ständig neue, alternative Finanzierungsquellen für Projekte aller Art ergeben. Die rechtliche Situation des Crowdfundings in der Schweiz ist jedoch bis heute noch nicht restlos geklärt. Dieser Aufsatz soll deshalb einen Beitrag zur Beantwortung der sich stellenden Fragen in den Gebieten des Vertrags-, Konsumkredits- und Finanzmarktrechts leisten. Dabei wird der Schwerpunkt auf das Crowdlending gelegt. Inhaltsübersicht I.Einleitung II. Mögliche Funktionsweise der Crowdlending-Plattform III.Vertragsverhältnisse beim Crowdlending A. Vertragsverhältnisse zwischen der Betreiberin und ihren Nutzern 1. Die Rahmenvereinbarung 2. Weiteres Vertragsverhältnis zwischen der Betreiberin und dem Borger 3. Kein weiteres Vertragsverhältnis zwischen der Betreiberin und den Darleihern B. Vertragsverhältnis zwischen dem Borger und den Darleihern 1. Qualifikation als Darlehen 2. Qualifikation als Anleihe 3. Konsequenzen aus der Qualifikation als Darlehensvertrag IV.Crowdlending aus Sicht des Konsumkreditgesetzes A. Anwendungsbereich des Konsumkreditgesetzes 1. Der Konsumkreditvertrag 2. Der Konsument 3. Die Kreditgeberin 4.Konsumkreditvermittlung B.Würdigung 1. Problematik der geltenden Rechtsordnung 2. Vorschlag zur Lösung dieser Problematik V. Crowdlending aus Sicht des Finanzmarktrechts A. Gesetzgebung über Banken 1. Die Betreibung einer Bank 2. Unzulässiges Verhalten von Nichtbanken B. Gesetzgebung über Börsen und Effektenhändler C. Gesetzgebung über kollektive Kapitalanlagen 1. Schweizerische kollektive Kapitalanlage 2. Verwalter, Vertreiber und Depotbank von kollektiven Kapitalanlagen D. Gesetzgebung über Geldwäscherei 1.Finanzintermediäre 2. Pflichten der Finanzintermediäre VI.Fazit I.Einleitung Crowdfunding ist eine seit einigen Jahren immer stärker aufkommende alternative Finanzierungsform von Projek- AJP 12_2014.indb 1610 L’importance du financement participatif (crowdfunding) a fortement progressée ces derniers temps. Des plateformes de financement participatif ne cessent de voir le jour sur Internet, avec toujours plus de nouvelles sources alternatives de financement pour des projets de toute sorte. La situation juridique du financement participatif n’est à ce jour pas totalement claire en Suisse. Cet article contribue donc à résoudre les questions qui se posent en matière de droit des contrats, du crédit à la consommation et des marchés financiers. L’accent est mis sur le crowdlending. ten aller Art1. Dabei werden die Mittel zur Finanzierung der Projekte (funding) durch die Mobilisierung der Menschenmenge (crowd) aufgebracht. Diese Mobilisierung wird über die Nutzung sogenannter Crowdfunding-Plattformen im Internet erreicht, indem Kapitalsuchende darauf ihre Projekte vorstellen und Geldgeber das von ihnen ausgewählte Projekt finanzieren können2. Crowdfunding kann in vier verschiedene Modelle unterteilt werden: Crowddonating, Crowdsupporting, Crowdlending und Crowdinvesting3. Dieser Beitrag4 soll die rechtlichen Grundlagen des Crowdlendings in der Schweiz aufzeigen. Dieses unterscheidet sich vom 1 2 3 4 Andreas Schneuwly, M.A. HSG in Law and Economics, Substi- tut, Zürich. Crowdfunding ist dabei keineswegs bloss ein Phänomen der Gegenwart. Bereits die Finanzierung des Sockelbaus der Freiheitsstatue in New York erfolgte durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit <http://www.nps.gov/stli/historyculture/joseph-pulitzer.htm>. Siehe auch die vergleichende Darstellung bei Stefan Grieder/ Jana Essebier/Nadia Tarolli, Diskussionspapier Risikokapital in der Schweiz, Dezember 2013, zuletzt abgerufen am 28.4.2014 von: <http://www.seco.admin.ch/themen/05116/05118/05319/index. html?lang=de>, Teil A, 3 ff. Für die Unterteilung: Andreas Dietrich, Entwicklungen im Crowdfunding-Markt Schweiz, in: IFZ Retail Banking Blog, 19.8.2013, zuletzt abgerufen am 28.4.2014 von: <http://blog.hslu. ch/retailbanking/2013/08/19/entwicklungen-im-crowdfundingmarkt-schweiz> passim; respektive Crowdsourcing Inc, Crowdfunding Industry Report 2013, Los Angeles 2013, 19. Dieser Beitrag basiert auf der vom Autor am 29.4.2014 eingereichten Masterarbeit an der Universität St. Gallen (HSG), welche mit dem Paul Alther-Preis 2014 ausgezeichnet wurde. Sofern nicht anders erwähnt, gilt als Stand der Gesetzgebung und Rechtsprechung der 29.4.2014. 12.12.14 13:31 Dienstleistungsverträge – Begriff, Arten, rechtliche Grundlagen AJP/PJA 12/2014 Dienstleistungsverträge – Begriff, Arten, rechtliche Grundlagen 1627 Alfred Koller Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit Begriff (1.) und Arten (2.) der Dienstleistungsverträge, vor allem aber mit deren rechtlichen Grundlagen (3.). In diesem letzten Abschnitt geht es zentral um die Interpretation von Art. 394 Abs. 2 OR. Nach dieser Bestimmung stehen «Verträge über Arbeitsleistung, die keiner besonderen Vertragsart dieses Gesetzes unterstellt sind, … unter den Vorschriften über den [einfachen] Auftrag». Das wird z.T. dahin interpretiert, dass die Art. 394 ff. OR bei Innominatverträgen mit Dienstleistungscharakter unmittelbar zur Anwendung gelangen und daher vorbehältlich einer abweichenden gültigen Vertragsabrede ohne Einschränkung. Nach anderer Ansicht finden die Bestimmungen nur entsprechende Anwendung und deshalb nur insoweit, als sie nach den Regeln der Analogie passen. Der Verfasser referiert Lehre und Rechtsprechung zu dieser Kontroverse und begründet, weshalb nur die zweite Auffassung dem Gesetzessinn entsprechen kann. Inhaltsübersicht 1. Begriff der Dienstleistungsverträge 2. Arten von Dienstleistungsverträgen und deren Merkmale 3. Rechtliche Grundlagen der Dienstleistungsverträge A. Einleitung B. Die Konzeption der gesetzlichen Vertragstypenregelung C. Die subsidiäre Geltung der Art. 394 ff. OR 1. Begriff der Dienstleistungsverträge 1. Bei den im OR geregelten Dienstleistungsverträgen (Arbeitsvertrag, Werkvertrag usw.) handelt es sich um Verträge, bei denen sich die eine Partei zur Erbringung einer Dienstleistung (z.B. Abschluss eines Vertrags, Führung eines Prozesses, Vornahme einer Operation) verpflichtet. Davon zu unterscheiden sind Vereinbarungen, welche zwar eine Dienstleistung zum Gegenstand haben, jedoch keine auf deren Erbringung gerichtete Verpflichtung erzeugen. Dazu gehören nebst den Gefälligkeitsabreden (dazu hinten Ziff. 2) Verträge, bei denen sich jemand für den Fall, dass er eine Dienstleistung erbringen sollte (ohne sich dazu zu verpflichten), eine Vergütung ver Alfred Koller, Prof. Dr. iur., Professor an der Universität St. Gallen. Herrn Rechtsanwalt Peter Nüesch danke ich für verschiedene Hilfeleistungen, insbesondere die Kontrolle der Anmerkungen. Ein weiterer Dank geht an meinen Assistenten BLaw Marco Bächtold. Er hat den Text formal bereinigt. AJP 12_2014.indb 1627 Le présent article porte sur la notion (1.) et les types (2.) de contrats de service, mais aussi et surtout sur leurs bases légales (3.). Ce dernier paragraphe concerne avant tout l’interprétation de l’art. 394 al. 2 CO. En vertu de cette disposition, « les règles du mandat [simple] s’appliquent aux travaux qui ne sont pas soumis aux dispositions légales régissant d’autres contrats ». Cette disposition est parfois interprétée en ce sens que les art. 394 ss CO s’appliquent directement aux contrats innommés ayant un caractère de service et, sauf clause contractuelle contraire, sans restriction. Selon un autre avis, les dispositions ne s’appliquent que mutatis mutandis et uniquement si elles conviennent selon les règles de l’analogie. L’auteur rend compte de la doctrine et de la jurisprudence au sujet de cette controverse et explique pourquoi seule la deuxième conception correspond au sens de la loi. sprechen lässt. Solche auslobungsähnlichen (Art. 8 OR) Dienstleistungsverträge kommen etwa im Mäklerwesen vor: Es verspricht z.B. A, der auf Wohnungssuche ist, dem B eine Vergütung für den Fall, dass es ihm gelingen sollte, eine passende Mietgelegenheit nachzuweisen; B erklärt sein Einverständnis mit dem Lohnversprechen, ohne sich aber zu Suchbemühungen zu verpflichten. Das Gesetz regelt solche auslobungsähnlichen Verträge nicht. Auf mäklervertragsnahe Verträge, wie sie soeben beispielshaft umschrieben wurden, können jedoch die Bestimmungen über den Mäklervertrag (Art. 412 Abs. 2 und 413–418 OR) analog angewendet werden. Nach anderer Ansicht ist der Mäklervertrag nach dem gesetzlichen Leitbild ein auslobungsähnlicher Vertrag, weil der Mäkler nicht verpflichtet sei, auf den vom Auftraggeber gewünschten Erfolg (Vermittlung eines Vertrags) hinzuarbeiten1. Nach dieser Auffassung finden daher die Regeln des Mäklervertrags unmittelbare Anwendung. Indessen ist der Mäklervertrag gemäss Art. 412 Abs. 1 OR «Auftrag» und daher der Beauftragte von Gesetzes wegen dienstleistungspflichtig2. Von grosser praktischer Bedeu- 1 2 Z.B. Bruno von Büren, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil (Art. 184–551), Zürich 1972, 203; Peter Gauch, Der Werkvertrag, 5. A., Zürich 2011, Rn 21, m.w.Nw. in Anm. 43. So z.B. Hugo Oser/Wilhelm Schönenberger, Zürcher Kommentar zum Obligationenrecht, Art. 184–418 OR, 2. A., Zürich 1936, N 13 zu Art. 412 OR. 12.12.14 13:31 Daniel M. Häusermann AJP/PJA 12/2014 Alkoholiker am Steuer Wie eine falsch getestete Nullhypothese die Verkehrssicherheit gefährden kann 1636 Daniel M. Häusermann Die Haaranalyse auf Ethylglucuronid (EtG) ist eine Methode, um den Alkoholkonsum einer Person über einen längeren Zeitraum zu ermitteln, und hat seit Mitte des letzten Jahrzehnts in der Verkehrsmedizin eine grosse Bedeutung erlangt. Das Bundesgericht stellte jüngst allgemeine Leitlinien auf, wie Haaranalysen auf EtG im Zusammenhang mit dem Abstinenznachweis nach einem Sicherungsentzug des Führerausweises zu interpretieren sind. Der Autor zeigt unter anderem gestützt auf Konzepte aus der induktiven Statistik, dass sich die Haaranalyse auf EtG nicht für den Abstinenzbeweis eignet. Die Praxis des Bundesgerichts führt dazu, dass vielen Nichtabstinenten der Abstinenzbeweis gelingen wird. Zudem überschiesst die Auflage einer Totalabstinenz, da diese auch dann zu beachten ist, wenn die betroffene Person nicht am motorisierten Verkehr teilzunehmen gedenkt. Der neue Art. 17a Abs. 2 SVG, der den Einsatz von Alkohol-Wegfahrsperren nach einem alkoholbedingten Sicherungsentzug vorschreibt, wird zwar die Verkehrssicherheit besser gewährleisten als heute, nicht aber die Verhältnismässigkeit. Der Autor macht deshalb einen Vorschlag, wie dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz in diesem Bereich de lege lata et ferenda zum Durchbruch verholfen werden könnte. Inhaltsübersicht I.Ausgangsfall II. Nullhypothese, Signifikanz und Fehler erster und zweiter Art: das Neyman-Pearson-Paradigma III.Anwendung auf den Abstinenzbeweis A. Nullhypothese: Proband hat Alkohol konsumiert B. Tiefes Signifikanzniveau (reduziertes Beweismass) IV.Kritik A. Richtige Nullhypothese, falscher Test B. Untauglichkeit der Haaranalyse für den Abstinenzbeweis C. Ausserordentlich tiefes Beweismass D. Irrelevanz der Messunsicherheit? E. Falsche Instruktion der Gutachter V. Rechtspolitische Überlegungen A. Abstinenzauflage als Bewältigungsversuch des Zielkonflikts zwischen Verkehrssicherheit und individueller Freiheit B. Abstinenzauflage zugleich überschiessend und nicht durchsetzbar C. Alkohol-Wegfahrsperre nach dem neuen Art. 17a SVG als Ausweg? VI.Zusammenfassung der Ergebnisse Daniel M. Häusermann, Dr. iur., LL.M. (Harvard), Rechtsan- walt, Zürich. Ich danke den Herren Prof. Dr. med. Roland Hausmann, Dr. med. Ulfert Grimm und Dr. rer. nat. Jochen Beyer vom Institut für Rechtsmedizin am Kantonsspital St. Gallen für wertvolle Auskünfte, Einschätzungen und Anregungen sowie meiner Frau, Dr. Claudia F. Brühwiler Häusermann, für die Durchsicht des AJP 12_2014.indb 1636 L’analyse de l’éthylglucuronide (EtG) dans les cheveux est une méthode qui permet de déterminer la consommation d’alcool d’une personne sur une longue période. Cette méthode a pris une grande importance en médecine du trafic depuis la moitié de la dernière décennie. Le Tribunal fédéral a récemment défini des règles générales sur la manière d’interpréter des analyses capillaires de l’EtG en relation avec la preuve de l’abstinence après un retrait de sécurité du permis de conduire. L’auteur démontre, en s’appuyant notamment sur des concepts issus de la statistique inductive, que la recherche de l’EtG dans les cheveux n’est pas indiquée pour la preuve de l’abstinence. La pratique du Tribunal fédéral a pour effet que de nombreuses personnes qui ne sont pas abstinentes parviendront à prouver leur abstinence. Par ailleurs, l’exigence d’une abstinence totale va trop loin, car celle-ci doit également être observée si la personne concernée n’entend pas prendre part au trafic motorisé. Le nouvel art. 17a al. 2 LCR, qui prescrit l’utilisation d’un éthylomètre anti-démarrage après un retrait de sécurité lié à la consommation d’alcool, permettra d’améliorer la sécurité routière par rapport à la situation actuelle, sans toutefois répondre au principe de proportionnalité. L’auteur suggère donc un moyen de concrétiser le principe de proportionnalité dans ce domaine de lege lata et ferenda. I. Ausgangsfall1 Nach sechs Verurteilungen wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand wurde 2008 dem Autofahrer A. der Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen. Am 20. Juli 2012 wurde ihm der Ausweis wieder erteilt, unter anderem mit der Auflage, eine ärztlich kontrollierte Alkoholabstinenz zu beachten und sich alle sechs Monate einer Haaranalyse auf Ethylglucuronid (EtG)2 zu unterziehen. Eine Haar 1 2 Manuskripts. Für den Inhalt des Aufsatzes bin alleine ich verantwortlich. Die zitierten Webseiten wurden zuletzt am 12. November 2014 besucht. BGE 140 II 334. Zur Haaranalyse auf EtG siehe Bruno Liniger, Die forensischtoxikologische Haaranalyse auf Ethylglucuronid – eine beweiskräftige Untersuchungsmethode zur Überprüfung des Alkoholkonsums in der verkehrsmedizinischen Begutachtung, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2006, St. Gallen 2006, 41 ff.; Bruno Liniger/Markus Baumgartner, Zur Interpretation strittiger Laboranalysen-Befunde in der verkehrsmedizinischen Fahreignungsbegutachtung am Beispiel der chemisch-toxikologischen Haaranalytik, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2008, St. Gallen 2008, 11 ff.; Isa Thiele/Antonia Eschenbacher/Munira Haag-Dawoud, Neue Grundsätze zur Abstinenzkontrolle, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 12.12.14 13:31 Matthias Portmann AJP/PJA 12/2014 Der neue Anwendungsbereich des Formulars R unter FATCA – hat das Formular R noch eine Zukunft? 1646 Matthias Portmann Mit der Einführung von FATCA wurde der Anwendungsbereich des Formulars R erheblich eingeschränkt. Dies hat zur Folge, dass bspw. Geldtransaktionen im Zusammenhang mit Erbteilungen, familienrechtlichen Angelegenheiten, Honorarvorschüssen oder Gesellschaftsgründungen nicht mehr vom neuen Anwendungsbereich des Formulars R gedeckt sind. Eine nicht zweckkonforme Verwendung der mit dem neuen Formular R dokumentierten Konten/Depots kann sowohl für die Bank als auch für den Anwalt/Notar mit Rechts- und Reputa tionsrisiken verbunden sein. Nach wie vor fallen zudem Escrow-Dienstleistungen eines Anwalts/Notars, die er aus seiner akzessorischen Funktion als Finanzintermediär tätigt und bei denen das kaufmännische Element überwiegt, nicht unter den Anwendungsbereich des Formulars R. Inhaltsübersicht I.Einleitung II. Der bisherige Anwendungsbereich des Formulars R 1. Sachlicher Geltungsbereich 2. Berufsspezifische vs. kaufmännische Tätigkeit bei EscrowDienstleistungen III.Der neue Anwendungsbereich des Formulars R unter FATCA 1. Die Beurteilung des FATCA-Qualifikationsgremiums 2. Der sachliche Geltungsbereich des überarbeiteten Formulars R 3. Erhöhte Rechts- und Reputationsrisiken für Banken und Anwälte/Notare 4. Die Haltung des Schweizerischen Anwaltsverbandes IV.Ländervergleich und Ausblick 1. Die Umsetzung der Escrow-Klausel in anderen Ländern 2. Anstehende Verhandlungen über den Wechsel des FATCAModells I.Einleitung Das Abkommen zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten über die Zusammenarbeit für eine erleichterte Umsetzung von FATCA1 (FATCA-Abkommen) ist am 2. 1 L’introduction de FATCA a considérablement réduit le champ d’application du formulaire R. Par voie de conséquence, les transactions financières en lien avec des partages successoraux, des affaires du droit de la famille, des avances d’honoraires ou des constitutions de sociétés par exemple n’entrent plus dans le champ d’application du nouveau formulaire R. En cas d’utilisation non conforme aux fins prévues des comptes/dépôts documentés dans le nouveau formulaire R, tant la banque que l’avocat/le notaire s’expose à des risques juridiques ou de réputation. Comme avant, les services d’escrow qu’un avocat/notaire propose subsidiairement en sa qualité d’intermédiaire financier et pour lesquels l’élément commercial prévaut ne tombent pas sous le coup du formulaire R. Juni 2014 in Kraft getreten. Das entsprechende Umsetzungsgesetz hat der Bundesrat auf den 30. Juni 2014 in Kraft gesetzt. In diesem Zusammenhang wurde das Musterformular R, das aus der Vereinbarung über die Standesregeln zur Sorgfaltspflicht der Banken (VSB) hervorgeht, angepasst und der Anwendungsbereich des Formulars wurde erheblich eingeschränkt. Die restriktive Umsetzung des FATCA-Abkommens in diesem Bereich stösst besonders in Anwaltskreisen auf Kritik. Im Folgenden soll der Anwendungsbereich des Formulars R beleuchtet und der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkungen damit sowohl für Anwälte/Notare als auch für die Banken verbunden sind. II. Der bisherige Anwendungsbereich des Formulars R 1. Sachlicher Geltungsbereich Mit der VSB 2003 wurde gestützt auf Art. 5 erstmals das Musterformular R eingeführt. Darin wird aufgeführt, un- Matthias Portmann, lic. iur., Rechtsanwalt, Stv. Leiter der Ab- teilung Compliance, Notenstein Privatbank AG, St. Gallen. Mit dem «Foreign Account Tax Compliance Art» (FATCA) wollen die USA erreichen, dass sämtliche im Ausland gehaltenen Konten von Personen, die in den USA steuerpflichtig sind, besteuert werden können. FATCA ist eine unilaterale US-Regelung, die weltweit für alle Länder gilt. Sie verlangt von ausländischen Finanzinstituten (Foreign Financial Institutions/FFI), dass sie sich bei der USSteuerbehörde (Internal Revenue Services(IRS)) registrieren und gegebenenfalls einen FFI-Vertrag abschliessen. In einem solchen AJP 12_2014.indb 1646 FFI-Vertrag verpflichtet sich das Finanzinstitut, die von ihm geführten und von US-Personen gehaltenen Konten zu identifizieren und dem IRS periodisch über diese Kundenbeziehungen zu rapportieren (Botschaft zur Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Zusammenarbeit für eine erleichterte Umsetzung von FATCA und zum Entwurf für ein Bundesgesetz über die Umsetzung des Abkommens, BBl 2013, 3182). 12.12.14 13:31 Stéphanie Perrenoud AJP/PJA 12/2014 Le congé de maternité : une discrimination à l’égard des pères ? 1652 Stéphanie Perrenoud Depuis le 1er juillet 2005, la loi fédérale sur les allocations pour perte de gain, verse, en sus des allocations de service, également des allocations de maternité. Celles-ci sont octroyées pendant un congé de maternité de 14 semaines et s’adressent exclusivement aux mères qui exercent une activité lucrative. Si le caractère d’assurance perte de gain de l’assurance-maternité permet de justifier objectivement l’exclusion des femmes sans activité lucrative du cercle des bénéficiaires de l’allocation, il semblerait qu’il soit plus difficile de légitimer, sous l’angle de l’égalité des sexes, le traitement préférentiel dont bénéficient les femmes par rapport aux hommes au moment où elles deviennent mères. La question de la conformité du congé de maternité au principe de l’égalité des droits entre femmes et hommes vient en effet d’être posée au Tribunal fédéral. Dans un arrêt rendu le 15 septembre 2014, les juges ont indiqué que la réponse à cette question réside dans le point de savoir si le congé de maternité est accordé en raison d’une différence biologique entre les sexes ou si, à l’inverse, il se veut le reflet d’une conception stéréotypée du partage des tâches entre l’homme et la femme. Plan I.Introduction II. Les faits III.L’art. 16b LAPG : une disposition conforme à la volonté du législateur ? 1. L’immunité des lois fédérales et l’interprétation de la loi 1.1 L’immunité des lois fédérales 1.2 Les méthodes ordinaires d’interprétation de la loi 2. L’interprétation de l’art. 16b LAPG IV.L’art. 16b LAPG : une disposition respectueuse de l’égalité des sexes ? 1. L’égalité des sexes 2. Les différents congés accordés lors d’une naissance 2.1 Le congé de maternité 2.2 Le congé d’allaitement 2.3 Le congé de paternité 2.4 Le congé parental 2.5 Le congé d’adoption 3. Le congé de maternité helvétique à l’aune du principe de l’égalité des sexes 3.1 La jurisprudence du Tribunal fédéral 3.2 La jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme V.Conclusion Seit dem 1. Juli 2005 sieht das Erwerbsersatzgesetz (EOG, SR 834.1) Ersatzleistungen nicht nur für Dienstleistende, sondern auch bei Mutterschaft vor. Diese werden während des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs ausgerichtet und sind ausschliesslich erwerbstätigen Müttern vorbehalten. Aufgrund des Versicherungscharakters scheint es objektiv einfacher, den Ausschluss nicht-erwerbstätiger Mütter aus dem Kreis der Empfänger dieser Leistungen zu begründen, als – unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung der Geschlechter – den Ausschluss der Väter. Mit der Frage der Vereinbarkeit des Mutterschaftsurlaubs mit der Gleichstellung von Frau und Mann hatte sich das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 15. September 2014 zu befassen. Nach der Analyse des Bundesgerichts kommt es bei der Beantwortung dieser Frage darauf an, ob der Mutterschaftsurlaub wegen eines biologischen Unterschieds zwischen den Geschlechtern gewährt wird, oder ob er stereotype Vorstellungen über die Aufgabenteilung zwischen Frau und Mann widerspiegelt. I.Introduction Le congé de maternité introduit par la législation helvétique est-il constitutif d’une discrimination à l’égard des pères ? Il s’agit là d’une question intéressante, qui a récemment été tranchée par le Tribunal fédéral. Dans un arrêt rendu le 15 septembre 2014 (arrêt 9C_810/2013, destiné à la publication), les juges fédéraux ont considéré que l’octroi d’un congé de maternité rémunéré de 14 semaines (en application des art. 329f CO1, 16b–h LAPG2 et 23 ss RAPG3) aux seules mères, ne viole pas l’interdiction de la discrimination à raison du sexe (art. 8 al. 3 Cst.4) : bien qu’une telle mesure réserve un traitement plus favorable aux femmes qu’aux hommes lors de la venue au monde d’un enfant, celui-ci trouve sa justification dans une différence biologique entre les sexes. Les pères ne sauraient dès lors se prévaloir de l’égalité des droits entre les sexes 1 2 3 Stéphanie Perrenoud, MLaw, Chargée de cours, Université de Lausanne. AJP 12_2014.indb 1652 4 Loi fédérale complétant le Code civil suisse (Livre cinquième : Droit des obligations) du 30 mars 1911 (CO), RS 220. Loi fédérale sur les allocations pour perte de gain en cas de service et de maternité du 25 septembre 1952 (LAPG), RS 834.1. Règlement sur les allocations pour perte de gain du 24 novembre 2004 (RAPG), RS 834.11. Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999 (Cst.), RS 101. 12.12.14 13:31 Roger Rudolph AJP/PJA 12/2014 Das Recht des Arbeitnehmers auf Einsicht in sein Personaldossier 1672 Roger Rudolph Die wirkungsvolle Wahrnehmung und Durchsetzung arbeitsrechtlicher Ansprüche setzt häufig voraus, dass der Arbeitnehmer Zugang zu sachdienlichen Unterlagen erhält. Wer zum Beispiel sein Arbeitszeugnis korrigiert haben möchte, kann dies leichter vor Gericht durchsetzen, wenn ihm die einschlägigen Mitarbeiterbeurteilungen vorliegen. Ganz ähnlich verhält es sich mit Arbeitszeitunterlagen in einem Überstundenprozess oder persönlichen Zielerreichungsdaten in einem Bonusstreit. Mit dem Auskunftsrecht von Art. 8 DSG steht Arbeitnehmern ein umfassendes, einfaches und kostenloses Instrument zur Verfügung, um vom Arbeitgeber Einblick in die eigenen Personendaten zu verlangen. Bis heute umstritten oder noch gar nicht diskutiert sind aber verschiedene Sonderkonstellationen, die sich in der Praxis gar nicht so selten einstellen und häufig heikle Abwägungsentscheide bedingen, so zum Beispiel das Recht auf Einsicht in interne Korrespondenzen, Untersuchungsberichte oder Arbeitszeitunterlagen. Diesen und anderen Fragen geht der folgende Aufsatz nach. Inhaltsübersicht A.Einleitung B. Rechtliche Grundlagen I.Überblick II. Grundsatz: umfassender Auskunftsanspruch III.Einschränkungen IV.Modalitäten der Auskunftserteilung V.Rechtsdurchsetzung C.Sonderfragen I. Auskunftsrecht bezüglich interner Untersuchungen und Berichte II. Auskunftsrecht bezüglich interner Korrespondenzen des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer (inkl. Anwalts korrespondenz) III.Auskunftsrecht bezüglich geschäftlicher Korrespondenzen IV.Auskunftsrecht bezüglich Arbeitszeitunterlagen V. Recht auf eine Vollständigkeitserklärung? A.Einleitung «Wissen ist Macht» – diese Erkenntnis hat auch im Arbeitsrecht ihre Berechtigung. Ganz besonders gilt dies für Arbeitnehmende, die sich überlegen, Rechtsansprüche gegenüber ihrem Arbeitgeber durchzusetzen. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Beweislastregel von Art. 8 Roger Rudolph, Dr. iur., Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Ar- beitsrecht, Wetzikon. Referat, gehalten an der St. Galler Tagung zum Arbeitsrecht vom 28. November 2014 und vom 5. Dezember 2014. AJP 12_2014.indb 1672 Pour pouvoir exercer et appliquer de manière efficace les prétentions relevant du droit du travail, le travailleur doit souvent obtenir l’accès aux documents utiles à cet effet. Celui qui souhaite que son certificat de travail soit corrigé peut y parvenir plus facilement devant un tribunal s’il dispose des évaluations des collaborateurs s’y rapportant. Il en va de même avec les relevés du temps de travail lors d’un procès qui porte sur les heures supplémentaires ou avec les données personnelles sur la réalisation des objectifs en cas de litige sur un bonus. Le droit d’accès de l’art. 8 LPD offre au travailleur un moyen complet, simple et gratuit pour exiger de l’employeur l’accès à ses données personnelles. Plusieurs situations particulières sont encore controversées aujourd’hui ou n’ont pas du tout été discutées, alors qu’il n’est pas rare qu’elles se présentent dans la pratique ; elles supposent souvent une délicate pesée des intérêts, par exemple le droit de consulter la correspondance interne, les rapports d’enquête ou les relevés des temps de travail. L’article qui suit étudie entre autres ces questions. ZGB ist es meistens an ihnen, einen behaupteten Anspruch vor Gericht zu beweisen. Diese häufig anspruchsvolle Herausforderung lässt sich einfacher meistern, wenn die sachrelevanten Informationen bekannt sind, also z.B. in einem Prozess um die Qualität des Arbeitszeugnisses die jährlichen Mitarbeiterbeurteilungen oder in einem Überstundenprozess die Zeiterfassungsunterlagen vorliegen. Unter Umständen lassen sich durch frühzeitige Informationsbeschaffung auch unnötige und teure Prozesse vermeiden, z.B. dann, wenn das Studium des Personaldossiers ergibt, dass es um die persönliche Zielerreichung doch nicht so gut bestellt ist und sich der vermeintliche Bonusanspruch deswegen in Luft auflöst. Das wird den Betroffenen zwar nicht freuen, ist aber immer noch besser, als blind ins prozessuale Verderben zu laufen. Mit dem datenschutzrechtlichen Auskunftsrecht nach Art. 8 des Datenschutzgesetzes (DSG) steht den Arbeitnehmenden ein in vielen Fällen gut geeignetes, einfaches und kostenloses Instrument zur umfassenden Informationsbeschaffung zur Verfügung. Dies ist längst kein Geheimnis mehr. So gehört es zum Standardrepertoire vieler Anwälte, mit dem Anzeigen des Mandatsverhältnisses vom Arbeitgeber als erste Amtshandlung das Personaldossier des Klienten einzufordern. Die Entscheidsammlungen der Gerichte belegen, dass arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen rund um die Ausübung des Auskunftsrechts des Arbeitnehmers gar nicht so selten sind und in jüngerer Zeit eher noch zugenommen haben. Ge- 12.12.14 13:31 Ralph Bomatter AJP/PJA 12/2014 Herausforderung Konkordate: Inventar der von den Kantonsparlamenten eingesetzten Institutionen und Verfahren 1684 Ralph Bomatter Die zunehmende Mobilität lässt Kantone in der Ausübung ihrer Kompetenzen an ihre Grenzen stossen. Die interkantonale Zusammenarbeit gewinnt dadurch stetig an Bedeutung. Diese Zusammenarbeit widerfährt aber zunehmend Kritik. Oftmals ist von einem Demokratiedefizit die Rede. Dabei werden hauptsächlich vier Einwände vorgebracht, u.a. die Beschränkung der parlamentarischen Gesetzgebungs-, Mitwirkungs- und Kontrollfunktion. Ein Blick in die Praxis – eine von zwanzig Parlamentsdiensten beantwortete Umfrage – zeigt jedoch auf, dass die Ressentiments gegenüber Konkordaten nicht (immer) berechtigt sind. Das Gros der Kantonsparlamente wirkt allfälligen Beschwerlichkeiten bereits entgegen. Selbstverständlich besteht aber weiterhin Verbesserungspotential. Eine Reflexion der Umfrageergebnisse beleuchtet, wie kantonale Parlamente ihre eingesetzten Institutionen und Verfahren noch wirksamer gestalten und in den Prozess einbinden können. Der Text schliesst mit einer differenzierteren Betrachtung des Schlagworts «Demokratiedefizit» und der Aufforderung an die kantonalen Parlamente, ihre Gestaltungsmöglichkeiten noch bewusster wahrzunehmen. Inhaltsübersicht 1.Einleitung 2. Demokratiedefizit im Föderalismus – eine Ferndiagnose 3. Demokratiedefizit im Föderalismus – eine Nahaufnahme 4. Empfehlungen – eine Reflexion der Umfrageergebnisse 5. Differenzierte Betrachtung eines politischen Schlagworts und Ausblick 5.1. Vorteile differenzierter Problemlösungen 5.2. Unterschätztes Potential kantonaler Parlamente La mobilité croissante pousse les cantons à leurs limites dans l’exercice de leurs compétences. La collaboration intercantonale ne cesse dès lors de gagner en importance. Mais cette collaboration est de plus en plus remise en question. On invoque souvent un déficit démocratique. A ce propos, il y a quatre principales objections, notamment la restriction des droits des parlements en matière de législation, de participation et de contrôle. Un coup d’œil sur la pratique, au travers d’une enquête à laquelle vingt services parlementaires ont répondu, montre toutefois que l’hostilité à l’égard des concordats n’est pas (toujours) justifiée. La grande majorité des parlements cantonaux lutte déjà contre les éventuelles difficultés. Bien sûr, des progrès peuvent encore être réalisés. Une réflexion sur les résultats de l’enquête révèle comment les parlements cantonaux peuvent organiser leurs institutions et procédures de manière encore plus performante et les intégrer dans le processus. Le texte s’achève sur une analyse nuancée de la notion du « déficit démocratique » et sur l’invitation faite aux parlements cantonaux à exploiter encore mieux leur marge de manœuvre. lassen sich vielfach nicht sinnvoll in den engen Schranken der Kantone regeln.2 Bereits Mitte 1960 bzw. in den 1 «Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will, muss verändern, was der Erneuerung bedarf.» Willy Brandt 1.Einleitung Die zunehmende Mobilität und die an das Gemeinwesen gestellten Erwartungen lassen Kantone in der Ausübung ihrer Kompetenzen oftmals an ihre Grenzen stossen.1 Die in den vergangenen Jahren neu entstandenen Aufgaben Ralph Bomatter, BSc ZFH in Wirtschaftsrecht, Student der Rechtswissenschaften an der Universität Luzern. Der vorliegende Text basiert auf der Bachelorarbeit «Verträge zwischen den Kantonen und KdK – Demokratiedefizit im Föderalismus?», im Studiengang Wirtschaftsrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die mit dem Rieter-Preis für die beste Arbeit ausgezeichnet wurde. AJP 12_2014.indb 1684 2 Ursula Abderhalden, Möglichkeiten und Grenzen der interkan- tonalen Zusammenarbeit: unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Integration der Schweiz, Diss. Freiburg 1999 (zit. Abderhalden, Möglichkeiten), 116 f.; Dies., Das Spannungsverhältnis zwischen Kantonsparlamenten und interkantonalen Regierungskonferenzen: Problem und Lösungsansätze, in: Thomas Dähler/Alfred Kölz/Markus Notter (Hrsg.), Materialien zur Zürcher Verfassungsreform, Zürich 2000 (zit. Abderhalden, Spannungsverhältnis), 42 f.; Daniel Bochsler/Pascal S ciarini, Konkordate und Regierungskonferenzen, Standbeine des horizontalen Föderalismus, LeGes 17 (2006) 23 ff., 23; Stephan C. Brunner, Kantonale Staatlichkeit im Wandel: Die Kantonsparlamente vor der Herausforderung kooperativer Handlungsformen, LeGes 15 (2004) (zit. Brunner, Staatlichkeit), 104; Silvano Möckli, Parlamente und die Interkantonalisierung der Politik, SGP 12 (2009) 5 ff., 6; Kurt Nuspliger/Jana Mäder, Bernisches Staatsrecht und Grundzüge des Verfassungsrechts der Kantone, 4. A., Bern 2012, 21; Bernhard Waldmann, Föderalismus unter Druck – Eine Skizze von Problemfeldern und Herausforderungen für den Föderalismus Schweiz, in: Markus Gredig et al. (Hrsg.), Peters Dreiblatt: Föderalismus, Grundrechte, Verwaltung, Festschrift für Peter Hänni zum 60. Geburtstag, Bern 2010 (zit. Waldmann, Föderalismus), 7. Abderhalden, Möglichkeiten (FN 1), 44; Andreas Auer/Gior gio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Vol. 1, L’Etat, 3ème éd., Berne 2013, N 1659; Bochsler/Sciarini (FN 1), 23; Brunner, Staatlichkeit (FN 2), 131; Hannah Kauz, Multi-Level-Government Schweiz, Aspekte der Zusammenarbeit 12.12.14 13:31
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